So bedeutsam wie der ostdeutsche Anteil an der Kultur-
und Geistesgeschichte Deutschlands insbesondere in der Neuzeit ist, so
sehr scheint dies in der letzten Zeit aus dem allgemeinen Bewusstsein zu
entschwinden. Die Gründe sind vielfältig. Die neusprachliche Umwidmung
von Ostdeutschland sowie die Brüsseler Verneinung von
Nationalstaatlichkeit mögen dabei eine zentrale Rolle spielen. Man muss
daher in einer Zeit, in der Ostdeutschland im politischen Nebel seine
Konturen zu verlieren droht, aufmerken, wenn die Landsmannschaft
Ostpreußen in Nordrhein-Westfalen auf 320 Seiten einen Längsschnitt
vorlegt, der Vergangenheit mit Gegenwart verbindet und zusätzlich noch
eine Perspektive in die Zukunft eröffnet. 75 Jahre nach Vertreibung und
Heimatverlust konnte es keine Festschrift werden, sondern die Schrift
musste die Gestalt einer Chronik annehmen. Wer nun aber eine Ansammlung
von nüchternen
Daten und trockenen Fakten erwartet, wird höchst angenehm überrascht.
Mit einem weit gefassten Spektrum an Themen widmet sich die reich
bebilderte und mit zahlreichen Karten ausgestattete Chronik
landeskundlichen, historischen, literarischen und auch aktuellen
politischen Fragestellungen. Die Chronik ist daher weit mehr als nur ein
Rückblick, und man ist geneigt, in diesem Zusammenhang hinsichtlich der
Beweggründe für die Erstellung einen Satz von Goethe zu bemühen: „Eine
Chronik schreibt nur derjenige, dem die Gegenwart wichtig ist.“
Der erste Teil widmet sich auf 95 Seiten naturgemäß der Entstehung, den
Zielsetzungen und der Entwicklung der Landsmannschaft speziell in
Nordrhein-Westfalen. Nach diesem eher allgemeinen Teil schließen sich
elf Kreisgruppen an, die ausführlich zu Wort kommen und mit Hilfe von
Bildgalerien über ihre Arbeit informieren. Wenn man das hier
ausgebreitete Material näher betrachtet, dann erschließen sich
unverkennbar mentale und soziale Strukturen, die zum Nachdenken in
mehrfacher Hinsicht herausfordern. Aus welchem Schmerz, aber auch mit
welchen Hoffnungen fand man sich im Bekenntnis zu Heimat und Herkunft
zusammen. Und wie kraftzehrend war es, Identität und Anspruch bis heute
zu bewahren. Immer wieder wird in den einzelnen Berichten deutlich, dass
es das kulturelle Erbe ist, das für Kontinuität und Gemeinschaft sorgt.
Einen gewichtigen Anteil haben die
unterschiedlichen Themen gewidmeten Aufsätze. In einem sorgfältig
recherchierten Beitrag beschäftigt sich Jochen Zauner mit „Masuren –
seine Menschen und ihre Identität vor 1920“ und kommt zu dem Schluss,
dass das Abstimmungsergebnis 1920 ein freies Bekenntnis war. Ebenso
aufschlussreich sind Horst Tuguntkes Ausführungen über das Ermland.
Bärbel Beutner, vielen bekannt als profunde Kennerin nicht nur der
ostdeutschen Literatur, ist gleich und weiß dem etablierten Bild neue
Akzente hinzuzufügen. Zum anderen liefert sie eine faszinierende Analyse
der aktuellen Rezeption ostpreußischer Dichter. Mit Wehmut erfüllt die
Darstellung von Lorenz Grimoni über das einmalige „Museum Stadt
Königsberg“ in Duisburg, das infolge äußerer Zwänge der Auflösung
anheimgefallen ist. Zwar sind wichtige Exponate nach Lüneburg und
Ellingen gegangen, aber eine schmerzliche Leerstelle ist
zurückgeblieben. Weitere Autoren befassen sich unter anderem mit
folgenden Themen:
„Kampf um Ostpreußen“, „Flucht über das zugefrorene Haff aus der
Täterperspektive“,
„Rückerwerb des Königsberger Gebietes“, „Störche in Ostpreußen“,
„Altertumsgesellschaft Prussia“, „Über die Prußen“, „Deutsche
Kulturgüter als Raubkunst“, „Wie ‚Ostpolen‘ zu Polen kam“, „Versailles
und das Memelland“. Unter der großen Zahl an Beiträgen seien zwei
herausgegriffen, weil sie in verständlicher Weise Klarheit in komplexe
Probleme bringen: Wilhelm Kreuer behandelt den „Lastenausgleich – eine
Erfolgsgeschichte?“ und kommt zu dem Ergebnis, dass den Vertriebenen
etwa nur ein Fünftel der Vorkriegswerte ersetzt wurde. Der
Wirtschaftsaufschwung hat dann die Gefühle geglättet. Mit dieser
Thematik hängt auch Ulrich Penskis „Dokumentation zur Eigentumsfrage“
zusammen. Er stellt die öffentlichen Äußerungen von
Vertriebenenvertretern zu dieser Frage zusammen und zieht in Bezug auf
die Realität das Resümee, dass die Rechtsprechung das „Siegerrecht den
Menschenrechten vorgezogen und damit auch die vielfach beschworenen
europäischen Werte als bloße politische Rhetorik enthüllt“ habe. Die
Fülle an Fakten sowie an Bild- und Kartenmaterial lässt die Chronik fast
wie ein Nachschlagewerk erscheinen. Betrachtet man die Beiträge aus der
Vogelperspektive, so wirken diese in ihrer Gesamtheit wie der Pulsschlag
Ostpreußens. Die Erinnerung hat einen Bruder und dieser heißt Hoffnung.
Die Chronik fängt so viel an ostpreußischem Geist ein und
veranschaulicht diesen derart, dass über die Hoffnung hinaus Zuversicht
erwächst. Der hier spürbar werdende lebendige Geist wird dieses Land
weitertragen. „Auch in Zukunft wird Ostpreußen seinen Platz behaupten.“
Quelle: Preußische
Allgemeine Zeitung/Das Ostpreußenblatt, Ausgabe 25/20 vom 19.06.2020
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