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"Weder gerecht noch klug" Von Hans B. v. Sothen Der Ersten Weltkrieg bedeutete einen tiefen Einschnitt in die Geschichte Deutschlands – und Ostpreußens im besonderen. Nicht umsonst hat man diesen Krieg und den ihm folgenden Versailler Vertrag als die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet. Am 8. Januar 1918 hatte US-Präsident Woodrow Wilson in einer Rede vor dem Kongreß in Washington seine 14 Punkte bekanntgegeben, die fortan eine wesentliche Grundlage für die Friedensdiskussion insbesondere in Deutschland werden sollten. Für die zukünftige Entwicklung Ostdeutschlands wurde Punkt 13 der "Vierzehn Punkte" von zentraler Bedeutung: "Ein unabhängiger polnischer Staat soll errichtet werden, der die von einer unbestreitbar polnischen Bevölkerung bewohnten Gebiete umfassen soll, dem ein freier und gesicherter Zugang zum Meer gewährleistet werden und dessen politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und territoriale Unverletzlichkeit durch internationale Abkommen garantiert werden soll." Doch was hieß das, "unbestreitbar polnische Bevölkerung" oder "freier und gesicherter Zugang zum Meer"? Dazu kam, daß die amerikanischen Berater Wilsons entweder Polen waren oder historisch wenig versiert. Als nach dem Waffenstillstand klar wurde, was dies tatsächlich bedeutete, war die Reichsregierung unter Ebert zutiefst erschreckt. Von den Franzosen hatte man nichts anderes erwartet. Aber von Wilson? "Im Vertrauen auf die Grundsätze des Präsidenten Wilson hat Deutschland die Waffen niedergelegt", so der Sozialdemokrat Ebert. Und nun war man auf Gnade und Ungnade ihrer Willkür ausgesetzt. Und die Willkürakte folgen auf dem Fuß. Ein Großteil von Posen und Westpreußen wurde ohne weiteres aus dem Reichsverband gelöst. Der südliche Teil des Kreises Neidenburg, das Gebiet um Soldau, ein fast rein deutsch besiedeltes Gebiet, wurde am 17. Januar 1919, ohne das Volk befragt zu haben, abgetrennt, nur weil zufällig eine für Polen wichtige Eisenbahnlinie durch es hindurchführte. Den britischen Premierminister Lloyd George faßte am 19. März 1919 ein leichtes Unbehagen: "Es ist weder gerecht noch klug, große Bevölkerungsteile wegen einer Eisenbahnlinie einer Regierung zu übergeben, welche sie ablehnen." Doch für Bedenken dieser Art war es bereits zu spät. Polen und Franzosen hatten bereits vollendete Tatsachen geschaffen. Ein Zurück für Soldau gab es nicht mehr. Schon wenige Monate später, am 6. Juni 1919, als Soldau mit mehr als 75 Prozent der Stimmen einen deutschen Kandidaten in den polnischen Landtag nach Thorn wählte, folgte eine Tragödie. Die Deutschen wurden ab 20. August 1919 vertrieben. Insgesamt 7.000 Menschen mußten das kleine Gebiet in Richtung Neidenburg verlassen; es war eine erste Vertreibung, ein böses Omen dessen, was noch folgen sollte. Die Ostpreußen vefolgten diese Geschehnisse mit gespannter Aufmerksamkeit. Eine Sympathiewerbung für Polen war das gewiß nicht. Trotzdem hatte die polnische Propaganda in Ostpreußen mit aller Kraft eingesetzt. Bereits am 1. November 1918 hatten die Polen gefordert, Masuren, Allenstein und Rößel, "wenn es sein müßte, durch einen Volksentscheid Polen einzuverleiben". Noch im selben Monat hatte sich in Allenstein ein Polnischer Volksrat (Rada ludowa) gebildet. Es wurden polnische Volksvereine gegründet, sowie ein Ermländisches und ein Masurisches Komitee, das von Warschau gelenkt wurde. Viele Agitatoren wurden aus Polen importiert. Zeitungen wie die "Gazeta Olsztynska" erhielten großzügige finanzielle Unterstützung von polnischen Ultras. Zusätzlich hatte die Interalliierte Kommission, als diese am 12. Februar 1920 die Verwaltung des gesamten künftigen Abstimmungsgebietes in Ostpreußen übernahm, die Grenzen zu den übrigen Teilen Ostpreußens geschlossen, die Grenzen nach Polen jedoch geöffnet. Die Wirkung blieb nicht aus. Noch unter dem Eindruck der Räteherrschaft (die Allensteiner SPD hatte anläßlich der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung am 19. Januar 1919 ein Wahlbündnis mit den Polen geschlossen!) stimmten bei den Kreistagswahlen in Allenstein am 4. Mai 1919 7.258 deutsche gegen 4.185 polnische Stimmen. Besonders bedenklich war, daß über 50 Prozent der Wahlberechtigten gar nicht erst zur Wahl gegangen waren. Demoralisierung machte sich breit. Als Reaktion auf die steigenden polnischen Aktivitäten wurden schließlich auch deutsche Organisationen zur Unterstützung der eigenen Sache im Wahlkampf gegründet. Als am 7. Mai die Friedensbedingungen in Ostpreußen bekannt wurden, wurde in Allenstein eine Bezirksstelle des Ostdeutschen Heimatdienstes geschaffen. Als Dachorganisation aller dieser deutschen Heimatvereine wurde schließlich der Bund "Masuren und Ermland" geründet, dem der Dichter Max Worgitzki vorstand, der in seiner Arbeit überaus erfolgreich war. Nicht weniger als 206 000 Mitglieder zählte der Bund bereits nach kurzer Zeit. Die Notwendigkeit der deutschen Selbstorganisation lag auf der Hand. Schon am 15. November 1918 war der Versuch einer gewaltsamen Übernahme von Teilen Ostpreußens durch polnische Insurgenten bei Neidenburg zu vermelden, bei dem 25 deutsche Soldaten verwundet wurden. In den folgenden Monaten versuchte die Reichsregierung verzweifelt, die in London, Paris und New York mit polenfreundlichen Beratern bereits insgeheim vorentschiedenen Dinge noch rückgängig zu machen. Meistens gelang dies nicht. Insbesondere die französische Diplomatie war beherrscht von Rachegedanken. Bezeichnend für den Geist der damaligen Zeit ist die Äußerung eines französischen Kreiskontrolleurs, der meinte: "Daß Polen (das Land) bekommt, ist uns erst in zweiter Linie wichtig; die Hauptsache ist, daß Deutschland es verliert." Am 28. Juni 1919 wurde der Vertrag von Versailles unterzeichnet, der in Deutschland, unabhängig vom politischen Standort des Betrachters, als "Versailler Diktat" bezeichnet wurde. Die Artikel 94 bis 97 des Vertrages behandelten das Thema Ostpreußen. Diese legten die Volksabstimmung im gesamten Regierungsbezirk Allenstein und im Kreis Oletzko / Marggrabowa (die Kreisstadt wurde 1928 in Erinnerung an die Volksabstimmung in Treuburg umbenannt) fest, sowie in den westpreußischen Kreisen Marienburg, Stuhm, Marienwerder und Rosenberg (Deutsch Eylau). Danzig, der überwiegende Teil von Westpreußen (ohne die Grenzmark um Schlochau und Deutsch Krone), Posen (mit Ausnahme des Gebiets um Schneidemühl) und Soldau wurden gar nicht erst gefragt, obwohl in vielen Kreisen eine mutmaßliche deutsche Mehrheit existierte. Am 1. Februar 1920 zogen sich die deutschen Truppen aus den Abstimmungsgebieten zurück. Etwa 14 Tage später übernahmen die Interalliierten Kommissionen die Verwaltung in Allenstein und Marienwerder. Am 25. Februar 1920 berichtete der britische Kommissar in Marienwerder, Beaumont, nach London, daß die Polen den Deutschen jedes mögliche Hindernis in den Weg zu legen bestrebt waren. In Dirschau, so Beaumont, sei der Weg von Polen in französischen Uniformen gesperrt worden. Am 31. März vermutete derselbe Kommissar, die Korridor-Regelung sei von den Franzosen "absichtlich ersonnen" worden, "um eine offene Wunde zwischen Polen und Deutschland zu lassen, welche von der Zeit wahrscheinlich eher vergiftet, denn geheilt werden wird". Einen Monat später war er selbst von der alliierten Politik endgültig geheilt: er nannte die Korridor-Regelung ein "Frankenstein-Monster" und schrieb an den britischen Unterstaatssekretär Sir Eyre Crowe nach London: "Wir kamen alle als Sympathisanten Polens her, aber seitdem wir die Dinge aus unmittelbarer Nähe gesehen haben, haben wir ohne Ausnahme – einschließlich der Franzosen – unsere Ansichten geändert. … Unser Eindruck ist, daß eine Aggression von seiten Polens wahrscheinlicher als von seiten Deutschlands ist." Erst am 25. Mai setzte die Botschafterkonferenz in Paris den 11. Juli 1920 endgültig als Abstimmungstag fest. Je näher der Termin rückte, desto deutlicher wurde, daß die deutschen Vereinigungen die erfolgreichere Politik betrieben hatten. Die Polen hatten sich durch ihr aggressives nationalistisches Vorgehen und durch den massiven Einsatz landfremder Agitatoren viel Sympathien auch bei den eigenen Anhängern – und zuletzt sogar bei den Alliierten – verscherzt. Noch zwei Tage vor der Abstimmung wurden, wie ein englisches Kommissionsmitglied berichtete, 37 mit Messern und Bomben bewaffnete Polen, die überdies mit Pässen der französischen Militärmission versehen waren, am nächtlichen Grenzübertritt gehindert. Das Kalkül der polnischen Seite, daß die Wähler aus dem Reich, insbesondere aus dem Ruhrgebiet, eher polnisch stimmen würden, ging in keiner Weise auf. Als man dies bemerkte, setzten allerlei Schikanen ein. So wurden etwa 25.000 aus dem Reich kommende Abstimmungsberechtigte im Korridor festgehalten und von den Polen an der Abstimmung gehindert. Dieses hilflose und, wie es der britische Kommissar Beaumont ausdrückte, "klägliche" Verhalten der Polen sowie die schlimmen Nachrichten aus Soldau führten schließlich zu einem völligen Fiasko der polnischen Pläne. Die wohlorganisierten Volksfeste der Deutschen, die überall im Vorfeld der Abstimmung organisiert wurden, taten ein übriges. Die Wahlergebnisse am 11. Juli 1920 waren für die deutsche Sache überwältigend. 96,66 Prozent beider Abstimmungsgebiete stimmten für den Verbleib bei Deutschland, nur 3,34 Prozent für Polen. Den Vogel schoß Treuburg / Oletzko ab: Ganze zwei Personen von 28.627 Wählern stimmten für Polen. "Incroyable – unglaublich", rief ein Franzose. "Wo sind die Experten von Paris?", fragte das italienische Mitglied der Interalliierten Kommission etwas maliziös. Am 19. und 20. August übernahm schließlich wieder die Reichsregierung in Berlin die Verwaltung über die ostpreußischen Abstimmungsgebiete.
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Volksabstimmung in Ostpreußen am 11 Juli 1920 |
Stand: 14.11.2024 |