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Propsteikirche nach britischen Bombardements 1944
Propsteikirche nach britischen Bombardements 1944

Geschichte aus Familiensicht

„Wir konnten von Heiligenwalde aus den Feuerschein sehen. Der Himmel war blutrot. Und die Lisbeth, dieses leichtsinnige Ding, ist auf einen Baum geklettert, um mehr sehen zu können. Aber da kam der Opa mit dem Krückstock und hat sie ins Haus gejagt!“

So erlebte ich jahrzehntelang die Zerstörung Königsbergs am 30. August 1944. Meistens fügte meine Mutter hinzu: „Als ich ein paar Tage später in Königsberg aus dem Bus stieg, wusste ich nicht mehr, wo ich war!“ Leider erzählte sie nicht, wo genau sie ausgestiegen war. Am Hauptbahnhof, heute Südbahnhof, hätte sie zumindest das Bahnhofsgebäude erkennen können, denn das war stehengeblieben. An den Stationen vorher aber, Königstor, Rossgärter Tor, Schloss konnte sie sich kaum mehr zurechtfinden. Übrigens fährt unser Bus, heute Nr. 110, noch genauso wie in deutscher Zeit - bis auf einige Veränderungen...

Ich ließ es mir nicht nehmen, zum 75. Jahrestag der Zerstörung Königsbergs meine Vaterstadt, die ich nur russisch kenne, zu besuchen. Sonderreisen wurden angeboten, ein Konzert im Dom war angekündigt, man verabredete sich im Vorfeld mit deutschen Landsleuten und russischen Freunden.

Der 30. August 2019 war ein Freitag. Ich kam am Sonntag zuvor in Königsberg an und fand einen heißen, sonnigen Spätsommer vor. In Heiligenwalde konnten wir draußen grillen und planten einen Ausflug an die Ostsee, genau gesagt nach Palmnicken, das mit  seinem weiten Sandstrand und seinen schönen Gebäuden schon lange unser Lieblingsziel ist. Am Montag bekam ich genauere Angaben über die Veranstaltungen rund um den traurigen 75. Jahrestag. Gerfried Horst, Autor des Buches „Die Zerstörung Königsbergs“, werde am Mittwoch einen Vortrag im Sackheimer Tor auf Russisch halten und am Sonnabend, den 31. August einen weiteren Vortrag auf Deutsch. Ein russischer Freund, Germanist und Dolmetscher, machte mich auf einen Beitrag in der überregionalen russischen Zeitung „Komsomolskaja Prawda“ aufmerksam. In der Kaliningrader Ausgabe vom 27. August berichtete der Journalist Vladislav Rschewskij auf zwei Seiten über das Bombardement 1944.

Dann kam der 30. August 2019 heran. Eine deutsche Reisegruppe traf ich am Vormittag im neuen Hotel Ibis. Es gab ein frohes Treffen und Wiedersehen. Treue Königsberger und Königsbergerinnen waren angereist, mit Krücken und Rollatoren. Sie nahmen ziemliche Strapazen auf sich und berichteten von dem Programm ihres Besuches in der geliebten Vaterstadt. Am Tag zuvor hatten sie in der Auferstehungskirche einen Gottesdienst auf Deutsch und Russisch miterlebt.

Für weitere Infos hier klicken!Nun fanden sie sich zu einem Vortrag von Prof. Dr. Wladimir Gilmanov über das Schicksal und die Bedeutung Königsbergs ein. Der Referent, 1955 in dem bereits russischen Kaliningrad geboren, stellte die gemeinsame Heimatstadt in eine Reihe mit Leningrad, Dresden, Auschwitz, den Gulag und Hiroshima und nannte sie alle „Orte der Apokalypse durch menschliche Hand“. Das 20. Jahrhundert habe durch unsere selbstverschuldete Unmündigkeit eine abnehmende Immunität gegen destruktive Kräfte entwickelt und diese Katastrophen ermöglicht. Er zitierte Klaus Garber, der ein so dramatisches Ende wie das Königsbergs nur wenigen Städten zuschreibt. Manchem Zuhörer fielen die Worte von Hans-Günther Parplies ein: Seit Karthago hat es keine so radikale Zerstörung einer Stadt gegeben, durch die radikale Vertreibung ihrer angestammten Bevölkerung und schließlich durch die Vernichtung Ihres Namens und ihrer Identität.

Aber Wladimir Gilmanov zeigte einen Gegenpol auf. Der Geist der Stadt konnte nicht zerstört werden. Als ein Eroberer auf das Schiller-Denkmal auf Russisch schrieb: „Nicht schießen - er ist unser!“, hatte, so Gilmanov, der neue Dialog schon begonnen. Und dieser Dialog findet statt im Geiste Kants. Was ist der Mensch? Er ist fähig zu furchtbarer Zerstörung, als ob ihn ein „selbstmörderisches Bestreben“ beherrscht, aber Gilmanov setzt dem das moralische Gesetz in einem jeden Menschen entgegen. „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je länger und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ So Kants berühmter Ausspruch. Die Vernunft, die dem Menschen das moralische Gesetz eingibt, verpflichtet ihn, mündig zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Gilmanov sieht darin die einzige Chance für  die Menschen zur „Erlösung aus ihrem selbstmörderischen Bestreben“. Der Mensch müsse ein homo sapiens und besonders ein homo moralis werden. Seine Vaterstadt Königsberg ist für Gilmanov der Ort, der für die geistige Sanierung Deutschlands und Russlands bestimmt ist.
 

Vorprogramm auf dem Königsberger Domplatz. (Foto: Jörg Naß)
Vorprogramm auf dem Königsberger Domplatz. (Foto: Jörg Naß)

Das nächste Ereignis dieses Tages war das Konzert im Dom. Es wurde verkündet, dass um 17.00 Uhr ein Vorprogramm vor dem Dom stattfinden werde. Bis dahin war noch Zeit. Wir mussten im Gebietsmuseum etwas abgeben, und ein freundlicher Mitarbeiter führte uns durch das neu konzipierte Museum. Wir sahen Exponate zur Geschichte der Prussen, Bernstein (nicht zu vergleichen mit der opulenten Sammlung im Dohna-Turm), Möbel und Mode aus früheren Jahrhunderten, die Würdigung deutscher Geistesgrößen.  Einen großen Raum nimmt der Sturm auf Königsberg 1945 ein. Aufnahmen von der zertrümmerten Stadt bedecken ganze Wände, der Besucher hat das Gefühl, sich inmitten der Trümmer zu befinden und die Kämpfe mitzuerleben. Dann kommen die neuen Bewohner, mit kleinen Holzkoffern als Gepäck, Kinder an der Hand. Das Museum ist ein pädagogischer Ort geworden, wo Kinder in die Geschichte ihrer Heimatregion eingeführt werden.

Als wir zu der neu errichteten Synagoge kamen, durften wir nur in das koschere Restaurant. Die Synagoge war leider schon geschlossen; es war halt zu spät.

Nach einer Stärkung mit koscherem Fisch begaben wir uns zum Dom. Auf dem Domplatz war eine Bühne aufgebaut. Das angekündigte Vorprogramm begann um 18.15 Uhr. Ein russischer Freund erklärte uns, dass das die Eröffnung der Festlichkeiten sei. Die Domleiterin Vera Tariwerdiewa begrüßte das Publikum und wies auf die Bedeutung dieses Tages und dieses Gedenkens hin. Ihre Worte wurden ins Deutsche übersetzt. Dann trug sie ein Gedicht einer russischen Dichterin vor - und das würde nicht übersetzt. Es fiel kein deutsches Wort mehr. Ein fünfköpfiges Orchester aus Moskau spielte, aber die einzelnen Stücke wurden nur auf Russisch angekündigt. Nicht alle deutschen Gäste waren so musikalisch, dass sie die Melodien sofort erkannten.
 

Konzert des britischen Pianisten George Harliono im Dom. (Foto: Jörg Naß)
Konzert des britischen Pianisten George Harliono im Dom. (Foto: Jörg Naß)

Um 19.30 Uhr begann das Konzert im Dom, ein grandioses Klavierkonzert des jungen britischen Pianisten George Harliono. Auch das war von symbolischer Bedeutung: englische Bomben hatten die Stadt zerstört, nun spielte der begabte junge Engländer Werke von Bach, Beethoven und Chopin. Die Domleiterin moderierte. Ein Gemälde des wieder erbauten Domes wurde vorne aufgestellt, eine alte Königsbergerin, eine Deutsche, zündete eine Kerze an. Das Gedicht der russischen Dichterin Djemma Firssova wurde noch einmal vorgelesen.

Später bekam ich eine deutsche Übersetzung des Gedichtes. Es schildert das Grauen der Zerstörung, das sich nicht zum Schweigen bringen lässt. In der Nacht kommt die Angst, die Opfer melden sich. „Ich höre in finsterer Nacht/Ihr Flüstern und Stöhnen.“ Die Zeit ist aufgehoben, für das Grauen gibt es keine Vergangenheit. „Ein halbes Jahrhundert verging...“. Aber: „Für Tote gibt´s keine Zeit...“ Es ist ein langer Zug von Opfern. „Ich sehe sie nicht - /Höre nur Stimmen, unsichtbar:/Ich weiß nicht, ob fremd oder eigen.“

Der denkwürdige Tag ging zu Ende. Nach dem Konzert gab es vor dem Dom noch einige Gespräche. Die Organisatoren bedauerten, dass die Veranstaltung auf behördliche Anweisung hin anders verlaufen war als geplant. Meine Freundin und Gastgeberin, bei der ich seit Jahren bei meinen Besuchen in Heiligenwalde wohne, drängte zum Parkplatz vor dem Supermarkt  „Viktoria“ auf der Dominsel. Sie wollte noch Brot und Smetana kaufen. Auch nach einem aufwühlenden Konzert kann der Magen knurren. Auch nach dem Gedenken an die Apokalypse meldet sich der Alltag.

Wir fuhren nach Heiligenwalde - und da bildete sich ein Nebel, so dicht und weiß, dass die Autoscheinwerfer nicht durchdrangen. Man sah nichts, keinen Baum und kein Haus, nur eine schneeweiße Wand.

Dann kamen wir aber doch sicher zu Hause an und dachten bei Tee und Praniki über manches nach. Seit 27 Jahren fahre ich „nach Hause“ in das Dorf meiner Eltern und Großeltern, liebevoll aufgenommen von den russischen Bewohnern. Meine Freundin war  „sauer“ über die Politik, die den Deutschen und Russen das Miteinander schwer machen will. Doch im Laufe unseres Gespräches trat Wichtigeres in den Vordergrund. Ihr Schwager hat gesundheitliche Probleme, meine Nichte in Deutschland sucht Arbeit, unsere Nachbarin in Heiligenwalde/Uschakowo hat eine gute Nachricht bekommen: ihre Krankheit ist offensichtlich besiegt. Meine deutsche Schwester wird wohl operiert werden müssen, aber es wird nur ein kleiner Eingriff sein. Der Schwiegersohn unserer Nachbarin und Freundin in Uschakowo ist bereits in jungen Jahren Invalide, das sind Sorgen. Meine Nachbarin in Deutschland ist alt und krank, das sind auch Sorgen. Die Enkelin meiner Freundin hat großen Erfolg in ihrer Ausbildung, für uns immer wieder eine Freude. Und dann denken wir an unsere Verstorbenen, an diejenigen, die wir gemeinsam kannten und liebten, Deutsche und Russen - in fast dreißig Jahren sind es viele... So ist das nun mal in Familie und Verwandtschaft...

Vor 75 Jahren wollte man meine Vaterstadt zerstören. Aber sie ist wieder da, ein Ort der Begegnung, mit einer wichtigen Aufgabe für die deutsch-russische Geschichte. Und in meinem Dorf findet Geschichte statt, deutsch-russische Geschichte bis hin zur Wahlverwandtschaft bzw. zur eigentlich organisch gewachsenen Verwandtschaft. „Bei uns im Dorf“ gibt es das reale Leben, mit allen Sorgen und Freuden, mit Krach und Liebe - Geschichte verläuft wohl doch nach menschlichen Gesetzen, auch wenn es der Politik nicht passt...

Bärbel Beutner
 

Quelle:
s/w-Foto: LO-NRW Archiv;
Text und Fotos: 'Unser schönes Samland', 224. Folge, Winter 2019, Seite 50-54

 

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