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Land der dunklen Wälder
Die Geschichte des Ostpreußenliedes
von Harry D. Schurdel

Die vier bekanntesten ostdeutschen „Regionalhymnen" - das Pommernlied („Wenn in stiller Stunde"), die beiden Schlesierlieder („Blaue Berge, grüne Täler" und "du schönes Riesengebirge") sowie das Ostpreußenlied („Land der dunklen Wälder") - sind jüngeren Datums. Entstanden die drei Erstgenannten im 19. Jahrhundert, so liegt die Entstehung des Ostpreußenliedes doch erst gut sechs Jahrzehnte zurück. Viele Sägerinnen und Sänger halten die Ostpreußenweise für ein altes Volkslied. Ein größeres Kompliment kann einem Musikstück dieses Jahrgangs gar nicht gemacht werden.

Die deutschen Vertriebenen - fast 18 Millionen an der Zahl, wenn man die 2,3 Millionen Verluste an Menschenleben auf den Flüchtlingstrecks mitrechnet - haben Heimat, Hab und Gut verloren. Nicht nehmen konnte man ihnen ihren geistigen Kulturschatz. Dazu gehört als ein wichtiger Teil das heimatliche Liedgut, in dem sich Schicksal und Seele der Menschen ausdrückt.

Seit über sechs Jahrzehnten ertönt fern von Ostseestrand und Memelstrom, Masurеnseen und Oberland die „Nationalhymne” der Ostpreußen. Ja, seit wenigen Jahren stimmen gar wieder in der Region ansässige Bürger deutscher Abstammung, Rußlanddeutsche aus Mittelasien, das „Land der dunklen Wälder" an - genauso „mit heiligem Herzen" in der Stimme, wie es die Vortragsanweisung des Liedes vorgibt, und wie es die „alten" Ostpreußen schon immer haben erklingen lassen.

Komponiert wurde die ostpreußische Landesweise - die allerdings nie einen  amtlichen Status erhielt - im Jahre 1930. Die Melodie, schnell als das Ostpreußenlied bekanntgeworden, bildet den Schlusschor des „Oratoriums der Heimat, das mit den Worten „Heimat! Wir rufen Dich!" beginnt. Das gesamte Werk wurde 1932 vorgelegt.

Und wer war nun der Schöpfer dieser wunderbaren Melodie? Im Gegensatz zu den Tonkünstlern manch anderer Volksweisen ist der Komponist von „Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen" bekannt, ja ein gestandener Profi: der Professor für Musik Herbert Brust, geboren am 17. April 1900 in Königsberg (Pr.), der Metropole Ostpreußens. „Alles, was das Herz erhebt und den Geist befreit, das Gute, Schöne und Geistvolle des ostpreußischen Landes klingt aus Herbert Brusts Melodien heraus - Ausdruck persönlichen Erlebens, eigenständig und gewachsen aus dem künstlerischen Talent, dessen Geheimnis und Tiefe niemand zu ergründen vermag", so konnte man einmal über den Tonschöpfer lesen.

Der Künstler widmete sein Leben der Musik. Und er fing früh an: Bereits mit 16 Jahren drückte er, vertretungsweise, Tasten und Pedale an der Orgel des Doms seiner Vaterstadt. Seine Lehrer waren Walter Eschenbach, der etatmäßige Domorganist, und Reinhold Lichey, seines Zeichens Dirigent des Königsberger Oratorien-Vereins, der einen landesweiten Ruf als Orgelvirtuose genoss.

Beide förderten und ebneten den Weg des jungen Mannes zu einer professionellen Ausbildung seines Talents. Diese erfuhr er dann ab 1919 auf der Berliner Akademischen Hochschule für Musik bei Prof. Walter Fischer und Prof. Friedrich Koch, zuletzt in der Meisterklasse für Komposition. 1922 schloss er das Studium mit dem Staatsexamen ab.

Herbert Brusts Eintritt in das öffentliche Musikleben fand, der Künstler war 24 Jahre alt, am 21. Februar 1925 in Königsberg statt. An jenem Tag veranstaltete  der „Bund für neue Tonkunst" ein Konzert, in dem auch erste Werke Brusts zur Aufführung gelangten, ja besonders herausgestellt wurden. Nicht nur beim allgemeinen, auch beim Fachpublikum fanden die vorgestellten Stücke breite Beachtung und Anerkennung. So verwundert es nicht, wenn auch bald der Ostmarken-Rundfunk Werke von Herbert Brust unter Dirigent Hermann Scherchen und Kapellmeister Erich Seidler ausstrahlte.

Bald wurden die Kompositionen des Ostpreußen auch über die Grenzen seiner engeren Heimat hinaus bekannt, und das Schaffen des Mannes, den Fachleute als den bedeutendsten Kirchenmusiker seiner Zeit bezeichneten, fand hohe  Anerkennung im In- und Ausland. Zu seinem umfangreichen Werkverzeichnis, das 96 Kompositionen umfasst, gehören die „Ostpreußischen Fischertänze", dis sinfonische Spiel „Kurische Nehrung”, die Festkantate „Memelruf”, die „Bernsteinkantate", die Musik zu dem Hörbild „Memеllаnd” (Worte: Agnes Miegel), zahlreiche Oratorien sowie Bläserspiele, Kammermusiken, Lieder, Sonaten und Motetten.

Sein privates Refugium hatte der Meister in dem kleinen Ort Neukuhren an der Bernsteinküste gefunden. Über dem Eingang seines Hauses stand der Spruch: „Der Heimat Rauch ist leuchtender als fremdes Feuer." Alle, die einmal Gelegenheit hatten, den Musiker dort, nahe der rauschenden Ostsee, zu erleben, leidenschaftlich hingegeben auf der Suche nach einer Melodie für Dichterworte, der wird diese Stunden nie vergessen.

Den Zweiten Weltkrieg erlebte der Künstler als Soldat auf dem Balkan. Zur Verteidigung der Heimat kam er im Januar 1945 noch einmal nach Ostpreußen und auch nach Neukuhren zurück, wo er so viele schöne Jahre verbracht hatte. Wie so viele andere Künstler seiner Generation wurde auch Brust durch den Zweiten Weltkrieg und die Vertreibung aus seiner geliebten Heimat mitten aus fruchtbarem Schаffеn gerissen, Er benötigte lange, bis er die Trennung vom Land seiner Väter innerlich einigermaßen verarbeitet hatte und Kraft zu neuem Schöpfertum fand.

Die Zeitläufe verschlugen den Komponisten dann nach Norddeutschland, nach Wesermünde (1947 in Bremerhaven umbenannt). An der dortigen Humboldt-Oberschule fand er eine Anstellung als Gymnasialprofessor für Musik. Seiner Tätigkeit als Organist konnte er an der Marienkirche zu Schiffdorf, einer niedersächsischen Randgemeinde von Bremerhaven, nachgehen.

In seinem neuen norddeutschen Domizil entstanden die Spätwerke Brusts: darunter eine Neufassung seiner „Ostpreußenkantate", die Kantaten „Zur Einweihung einer Aula" und „Zum Abschluss der Schulzeit", der Liederzyklus „Aus Heide und Moor”, die „Königsberger Schloßturm-Abendmusik, zwei Motetten zu Texten von Wilhelm v. Humboldt, verschiedene feinsinnige Kammerstücke und die Musik zur Weihe eines Mahnmals zu Worten von Agnes Miegel.

Am 26. Juni 1968 erlosch das Leben in Herbert Brust, eine Vita, die der Musik geweiht, aber auch von der unauslöschlichen Liebe zu seiner wahren Heimat geprägt war: Ostpreußen.

Für das „Oratorium der Heimat", dessen Melodie dem Komponisten schon lange im Ohr klang, suchte er einen Dichter. Und er fand einen wahrhaft kongenialen Partner in dem jungen Erzähler und Lyriker Erich Hannighofer. Nach intensivem schöpferischen Wirken in Brusts Neukuhrener Haus schrieb der Poet die so berühmt gewordenen vier Strophen des Ostpreußenliedes nieder. Bei der vierten Strophe findet man gelegentlich die Worte ,aufgegangen" und „angefangen" vertauscht. Selten wird noch eine fünfte Strophe gesungen, die späterhin von unbekannter Hand hinzugefügt wurde: 5. Heimat, wohlgeborgen zwischen Strand und Strom, blühe heut' und morgen unterm Friedensdom.

Über Erich Hannighofer ist die biographische Quellenlage weit spärlicher als über Brust, was natürlich In erster Linie daran liegt, dass der Poet nur 37 Jahre alt wurde. Wie der Komponist, so ist auch der Tondichter ein gebürtiger Königsberger, zur Welt gekommen am 25. Februar 1908. Er war überall beliebt ob seines Verständnisses für jedermann und seiner liebenswerten Umgangsformen. Innerlich war er aber eher einer der Stillen im Lande. So litt er darunter, dass er durch den Broterwerb als Staatsangestellter in Königsberg erst abends dazu kam, sich seinen schriftstellerischen Neigungen zu widmen. Und ein Behördenalltag dauerte seinerzeit noch neun bis zehn Stunden! Wie der „Südländische" Name vermuten lässt, war Erich Hannighofer Nachfahre der sogenannten Salzburger Exulanten.

Erich Hannighofers Frömmigkeit, wie sie in vielen seiner Arbeiten zum Ausdruck kommt, liegt sicherlich in der tiefen Religiosität seiner Salzburger Ahnen begründet. Bei solch gläubiger Einstellung verwundert es nicht, dass der "dichtende Angestellte" auch als christlicher Laienprediger In der ostpreußischen Gebetsgemeinschaft wirkte. In dieser Tätigkeit wuchs „Gott aus der Stille" in ihm, wie er es später formulierte. Hannighofer schrieb neue Verse, beschritt einen neuen Weg, den wesentlichen, wie er sagte: Der Dichter glaubte, erkannt zu haben, dass Gott nicht dort ist, wo er gefunden wurde, sondern dort, wo er gesucht wird. Von dieser Erkenntnis kündet in meisterlichen Worten seine 1937 herausgegebene Novelle „Erde". In einem Brief Erich Hannighofers aus dem Jahre 1940 ist zu lesen: „So ist Ostpreußen ein Land der Gegensätze, der Innigkeiten, der Dämonien, der Gebete und unendlicher Segnungen. In diesem Lande wuchs ich auf, und ich liebe Ostpreußen, wie man etwas liebt, von dem man wundersam ergriffen ist.” Diese große Liebe zu seiner Heimat war also gleichfalls mit einem sehr stark emotional gefärbten christlichen Glauben verbunden.

Ende der dreißiger Jahre heiratete der Lyriker. „Mein Herz gehört wie mein Werk meiner blonden Frau und meinem Töchterchen", so klangen stolz seine Worte aus jenen Tagen. Es wurden dann noch eine Tochter und auch ein Sohn geboren. Wenige Jahre danach kam für Erich Hannighofer die Einberufung zur Wehrmacht. Er wurde an die Ostfront versetzt. Im Herbst 1944 kehrte der Dichter zu seinem letzten Heimaturlaub nach einmal nach Königsberg zurück und war entsetzt, was die Luftangriffe der Briten wenige Wochen zuvor für Schäden in der ostpreußischen Hauptstadt angerichtet hatten.

Des Dichters Lebensschicksal vollendete sich im letzten Kriegsjahr. Seit 1945 gilt Hannighofer als vermisst. Desgleichen gilt sein Sohn als verschollen, „verloren" auf der Flucht. Der Vater hat es nicht mehr erfahren.

Sein Streben hiernieden umriss Erich Hannighofer einmal so: „Das lebendige  Leben verkünden und zu den Urströmen der Erde den Menschen zurückführen - mehr will ich nicht. Und ich will Rufer und Künder meiner Heimat sein." Trotz seines frühen Todes hat der Schriftsteller diese selbstgestellte Aufgabe erfüllt - und sei es nur in dem von allen seinen Landsleuten seit Jahrzehnten mit „heiligem” Herzen vorgetragenen Strophen seines Ostpreußenliedes.

Quellen:
Allensteiner Heimatbrief Nr.225, Ausgabe vom Juni 1998;
(Auszug aus: Harry D. Schurdel "Singen mit heiligem Herzen",
in: "Deutsche Geschichte", Zeitschrift für historisches Wissen,
Heft 5/6 1997 "Ostpreußen", S. 67-73.)


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